
Jeder von uns kennt Floskeln wie „Das haben wir immer schon so gemacht!“ oder „Die Dinge bleiben so wie sie sind!“ oder „Es hat doch 30 Jahre so funktioniert!“. Wenngleich diese Aussagen uns selbst stören, wenn wir sie hören, können wir uns nicht frei davon machen, wenn wir selbst von Veränderungen betroffen sind.
Diese Aussprüche sind nur die verbalisierte Spitze des Eisbergs, denn unbewusst sträubt sich jeder gegen Veränderung. Dieser Darth Vader aller Biases (Bias = kognitive Verzerrung) im Change- Management hat einen Namen: Status-quo-Bias. Dieser beschreibt die Tendenz von Individuen alles beim Alten (Ist-Zustand) zu belassen bzw. belassen zu wollen.
In diesem Artikel besprechen wir (Dr. Maximilian Panthen, Vice President Innovation bei KSB / Dr. Pablo Neder, The Ringsight), warum es diesen Bias gibt, wie er Change verhindert und, wie er zu überwinden ist. Dabei ist klar: Change ist komplex und wir schauen uns in diesem Beitrag nur einen von vielen wichtigen Stellhebeln für das erfolgreiche Gelingen von Change-Projekten an.
Change-Gravitation hält uns fest umklammert
Der Status-quo-Bias ist der natürliche Gegenpol von Veränderung in Organisationen. Wenn man eine Rakete ins Weltall schießen möchte, muss diese die Erdanziehungskraft überwinden. Der Status-quo-Bias ist – um im Bild zu bleiben – die Erdanziehungskraft einer Organisation. Er ist eine Kraft, die unbemerkt wirkt und die große Anstrengungen zur Überwindung braucht.
Wenn man zu Neujahr den Beschluss fasst sich mehr zu bewegen, so muss die Gravitation der Couch überwunden werden. Das ist schon für ein Individuum schwer – noch schwerer wird es, wenn auf dieser Couch hunderte oder tausende Menschen sitzen. Die Masse der Couch wird größer und damit ihre Gravitation. Wer steht schon auf, wenn „alle“ anderen sitzen bleiben? Es braucht noch mehr Treibstoff, um der Couch-Umlaufbahn zu entfliehen.
Vor dieser Herausforderung stehen Unternehmen und ihre Mitarbeitenden, wenn eine tiefgreifende Veränderung angestrebt wird, wie beispielsweise eine Re-Organisation oder eine Umstellung grundlegender Prozesse. Jedoch lässt sich diese Gravitation überwinden, wenn ihre Ursachen verinnerlicht werden.
Hauptursache 1: Das Beibehalten des Status-quo hat gelernte Vorteile
Die Art und Weise wie Menschen Arbeit in Gruppen organisieren, hat einen verstärkenden Einfluss auf den Status-quo-Bias. Schon Adam Smith wies auf die großen Produktivitätsgewinne durch Arbeitsteilung hin. Genau darin sind insbesondere große und etablierte Unternehmen stark: Sie zeichnen sich durch Strukturen und Prozesse aus, die Routinen ermöglichen und somit erhebliche Effizienzgewinne realisieren lassen. Selbst kleine Unternehmen kommen irgendwann an den Punkt, an dem sie verstärkt in Strukturen investieren müssen.
Für Individuen ist das ebenfalls vorteilhaft, denn Struktur, Wiederholung und Routine schaffen kognitive Entlastung, was mit dem Einsparen von Energie einhergeht. So gilt für uns alle im Supermarkt: Wenn wir jedes Mal aufs Neue überlegen müssten, welches Streichfett wir kaufen sollen, welchen Joghurt oder welches Brot, dann würde uns das nicht nur viel Zeit, sondern auch viel kognitive Kapazität kosten.
Übersetzt auf eine Produktionslinie in der Industrie heißt das: Man muss nicht mehr über jeden Fertigungsschritt nachdenken, denn er ist im Prozessdiagramm festgelegt und bestenfalls „in Fleisch und Blut“ übergegangen. Dies spart Energie, Zeit und Geld.
Auf der einen Seite geben uns Routinen Halt und Sicherheit, während wir gleichzeitig in diesen Arbeitsabläufen gefangen sind. Wie oft denkt man sich: „Mensch, das müssten wir eigentlich mal angehen und anders machen.“ Diesen Rubikon zu überschreiten ist auf dem Konzept-Papier (oder in Workshops) vermeintlich leicht, aber sehr herausfordernd im Arbeitsalltag und in der tatsächlichen Umsetzung.
Um das Bild mit der Gravitation zu erneuern: Auf der Couch lassen sich Motivationsvideos auf YouTube gut anschauen, aber wer steht direkt auf und geht joggen? Und das dann mehrmals pro Woche? Nach dem Schauen eines einzigen Videos?
Hauptursache 2: Neues birgt Unsicherheit
Der Status-quo-Bias beschreibt die Grundtendenz zum Ist-Zustand. Diese wird begleitet von einer Antipathie gegenüber der Veränderung, weil sie mit Unsicherheit, Wagnis und Risiko assoziiert wird.
Letztlich ist dieses Denkmuster Teil unserer Evolution: Diejenigen, die die Höhle neugierig verließen, als sie draußen ein unbehagliches Geräusch vernommen haben, kamen nie wieder zurück in die Höhle. Auch wir haben dieses unbehagliche Gefühl, selbst im Alltag und bei scheinbar unwichtigen Entscheidungen, z.B. im Supermarkt: „Was ist, wenn mir dieses neue Müsli nicht schmeckt? Dann hätte ich ja Geld umsonst ausgegeben!“
Menschen sind gut darin, diese Art von komplexen Entscheidungen zu vereinfachen. Sie verlassen sich deshalb auf ihre Gefühle, um die Entscheidung zu fällen. Die Gefühle der Unsicherheit, Ungewissheit und Spannung gegenüber etwas Neuem (= Müsli) können sich negativ auf die Entscheidung selbst auswirken. Veränderungen können also mit dem Gefühl der Angst und des Unbehagens einhergehen, was wiederum zu Ablehnung und dem Festhalten am Ist-Zustand führt.
Eine spezifische Angst ist die Verlustangst („loss aversion“). Menschen geben grundsätzlich nicht gerne Dinge ab, seien es materielle Gegenstände, aber auch immaterielle Güter wie z.B. Status oder Macht. Das Problem der „loss aversion“ ist, dass wir den Dingen, die wir besitzen einen viel höheren Wert zuweisen, als wenn andere diese Dinge besitzen würden. Wir „klammern“ also eher, wenn es um unsere eigenen Besitztümer geht und sind daher weniger bereit für Veränderung.
Dabei ist es unerheblich, um welchen Wert des Besitzes es dabei geht. Wer gibt schon gerne seine Privilegien wie ein eigenes Büro ab, auch wenn die Arbeitswelt sich verändert und gemeinsame Workshopräume im Büro wichtiger wären – und man sowieso drei Tage im Homeoffice sitzt?
Hauptursache 3: Neues erlernen kostet Energie
Veränderung im Allgemeinen kostet Energie. Zum einen kostet Veränderung Energie, weil das „Programm“ in unseren Köpfen erstmal neu geschrieben und verfestigt werden muss. Ein typisches Beispiel ist der Vorsatz „gesünder ernähren“, den viele von uns jedes Jahr formulieren. Das alte Programm muss gelöscht und unsere Routinen auf „gesunde Ernährung“ umgestellt werden. Das Einschleifen dieser Routinen kostet uns ständige Erinnerung, Aufwand und Kraft, weshalb viele die Neujahrsvorsätze schnell wieder ad acta legen.
Auf der anderen Seite ist die Alternative zur Veränderung, nämlich das Ausnutzen der Routine, des Erlernten und der unterbewussten Programme so wunderbar angenehm. Unser Gehirn ist meisterhaft darin, einmal erlernte Muster immer wieder in verschiedenen Situationen abzurufen. Das ist die andere Seite der Medaille, die das Durchbrechen von Mustern so schwierig macht. Erlernte Muster abzurufen sorgt für kognitive Entlastung, kostet wenig Energie und wir befinden uns in einem entspannten Zustand.
Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Fahrstunde? Vergleichen Sie damit einmal, wie Sie sich heute fühlen, wenn Sie ins Auto steigen und über die Landstraße fahren. Richtig, neue Situationen und Eindrücke verursachen in der Regel ein Gefühl des Unwohlseins. Diesen Zustand wollen die Menschen in Organisationen vermeiden, weil er für die meisten von uns mit negativen Gefühlen einhergeht. Dementsprechend ist die Tendenz zur Trägheit und zur Bewahrung des Status-quo sehr verlockend.
Im Folgenden zeigen wir Möglichkeiten auf, wie der Status-quo-Bias, dieser „Erzfeind des Change“, überwunden werden kann.
Lösung 1: Aktivierung von Ich-Zielen
In vielen Frameworks des Change-Managements kommen einige Möglichkeiten zur Bewältigung des Status-quo-Bias schon vor. Um Verlustängste zu überwinden, sollte man in der Kommunikation von Change-Maßnahmen vor allem die Gewinne und positiven Seiten des Ziel-Zustands in den Vordergrund stellen: „Wenn wir das jetzt machen, dann werden wir eine glorreiche Zukunft haben.“
Diese Gewinne sollten im Idealfall auf einzelne Menschen heruntergebrochen werden, weil dann die Motivation zur Mitwirkung gesteigert werden kann. Im Umkehrschluss sollte Kommunikation vermieden werden, die sich um das „Wegnehmen“ dreht (siehe oben: „Verlustangst“).
Lösung 2: Konstanz und Veränderung gehen Hand in Hand
Eben weil Lösung 1 so bekannt ist, wird sich bei der Change-Kommunikation jedoch oftmals zu stark auf den Zielzustand fokussiert. Um diesen Zielzustand zu erreichen müssen viele Entscheidungen getroffen werden. Aus Sicht der Entscheidungsfindung ist die Beibehaltung des Ist-Zustands genauso eine Entscheidung, nämlich eine Entscheidung für den Standard.
Dies wird oft vergessen bzw. dieser Entscheidung wird keine große Bedeutung beigemessen. Dabei wird bei einem Change-Management-Projekt selten eine ganze Organisation „auf links gedreht“, sondern viele Aspekte werden im Ist-Zustand belassen.
Die aktive Einbeziehung dieser Konstanten (z.B. bestimmte Routinen, Erfolge) kann dabei helfen, die Akzeptanz von Neuem zu fördern. Anstatt also zu sagen, dass sich eine Organisation komplett verändern wird und kein Stein mehr auf dem anderen bleibt, sollte man auch Aspekte betonen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben und konstant bleiben werden. Das schafft Vertrauen für den Wandel, indem auf einem „Fundament“ aufgebaut wird, anstatt das Haus komplett neu zu bauen. Unternehmenswerte sind solche Konstanten, die sich dafür anbieten, aber auch konkrete Bausteine, wie z.B. Business-Prozesse, die sich nicht oder nur marginal verändern.
Lösung 3: Kein Change ohne Training
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine kleine Business-Plauze und wünschen sich einen Sixpack. Was tun Sie? Sie stellen Ihre Ernährung um und gehen trainieren. Erst durch ständige Wiederholung im Ernährungs- und Trainingsplans schleifen sich neue Muster in ihren Denkweisen und Gewohnheiten ein (Stichwort: Theory of marginal gains).
Wenn man selbst eine hohe Motivation und Disziplin hat, ist das alleine möglich. Was passiert aber, wenn wir auf ein Unternehmen treffen, mit komplexen Bedürfnis- und Motivationsstrukturen? Denn eines ist klar: Change-Projekte sind offen für Sabotage („komme nicht zum Meeting, weil keine Zeit...“). Deshalb müssen Mitarbeitende unterstützt werden – die Führungskräfte müssen zu Coaches werden. Doch selbst diejenigen, die im Auftrag des Change-Managements arbeiten sind nicht vom Status-quo-Bias befreit. Woraus sich die Frage ergibt: Wer coacht die Coaches? Hierbei empfiehlt es sich, dass sich die Führungskräfte gegenseitig coachen (oder durch Externe im Prozess begleitet werden). So können fest terminierte und hoch-priorisierte Führungskräfterunden mit einer klaren Methodik helfen. Erfahrungsgemäß bieten solche Führungskräfterunden ein vertrauensvolles Umfeld, um über aktuelle Herausforderungen zu sprechen und die gewonnenen Erkenntnisse festzuhalten und mit anderen zu teilen.
Dieses Vorgehen bietet den Vorteil, dass Fortschritte gesammelt werden können – ob in Daten & Fakten oder anhand von beispielhaften (vorbildlichen) Geschichten. Den Fortschritt des Changes sichtbar zu machen und systematisch zu kommunizieren, ist Aufgabe der Führungskräfte. So wie ein Coach seine Athleten lobt oder die Waage ein paar Kilogramm weniger anzeigt. Der sichtbare Fortschritt macht Mitarbeitenden bewusst: „Wir sind auf dem richtigen Weg.“
Gerade hier zeigt sich bei Unternehmen jedoch eine Schwäche: Viele konzentrieren sich auf langfristige Indikatoren, wohingegen die Lead-Indikatoren vernachlässigt werden. Dies führt zur Ergebnis-Ungeduld. Demzufolge empfiehlt es sich, ein klares Zielsystem zu etablieren, das auch Lead-Indikatoren sichtbar macht. Im Bereich der Couch-Potatoes sind dies Indikatoren wie „das Treppensteigen fällt mir leichter“ oder „ich habe weniger Verlangen nach Süßigkeiten“. Welche Indikatoren für Ihr Unternehmen infrage kommen? Wenn Sie sich diese Frage stellen, sind Sie auf dem richtigen Weg!
Lösung 4: Gravitation geschickt für sich laufen lassen
Der Königsweg beim Change-Management ist den Status-quo-Bias mit seinen eigenen Waffen zu schlagen: Routinemäßige Veränderung zum Status quo machen. Die Trägheit des Systems wird genutzt, um ständig kleine Veränderungen und Neuerungen einzuführen.
Hier sind wir in der Sphäre der Unternehmenskultur, genauer beim „Organisationalen Mindset“. Organisationen sind per se immer einem ständigen Wandel ausgesetzt und dieser Vorgang ist etwas ganz Normales (= Ist-Zustand). Wenn Mitarbeitende eine Routine in der Veränderung haben, so fällt es naturgemäß viel leichter solche Maßnahmen einzuführen. Das System trägt sich selbst, weil Mitarbeitende positive Erfahrungen mit Veränderung gemacht haben: „Ständiger Wandel gehört bei uns dazu!“. Wichtig ist hierbei den Grad der Neuartigkeit zu beachten.
Natürlich ist die Veränderung der Zielmärkte oder Organisationsstruktur alle drei Monate nicht zielführend, aber die ständige Exposition mit Neuartigkeit, Risiko und Unsicherheit bereitet den Boden für eine flexible Organisation.
So kann es Teil von Meeting-Ritualen sein, dass ein neuer Trend (z.B. aus Konsum, Technologie, Social Media, Mode) vorgestellt wird, um gemeinsam dessen mögliche Auswirkungen auf das eigene Geschäftsmodell zu diskutieren. Ebenso kann vor einem Meeting ausgelost werden, wer heute die Rolle des „Challengers“ innehat. Dieser soll Aussagen gezielt hinterfragen, neue Perspektiven aufzeigen und somit das Denkvisier offen halten. Auch der Einsatz agiler Methoden wie Design Thinking, Scrum und Co. kann dabei helfen, die Denk- und Verhaltensweisen der Mitarbeitenden nachhaltig zu verändern. Aus der Wissenschaft kommend, liegt uns beiden Autoren das Experimentieren besonders am Herzen. Methoden wie Lean Startup oder Growth Hacking haben diese Gedankenwelt fest integriert. Hier werden ständig neue Erkenntnisse gewonnen, und die Handlungen daraufhin angepasst. Die Veränderung wird Teil des Status.
Ein wichtiger Punkt, der Ihnen vielleicht auch schon aufgefallen ist: Erreiche ich damit alle meine Mitarbeitenden? Denn schließlich müssen alle im Boot in dieselbe Richtung rudern – nicht, dass jemand den Sabotage-Anker ins Wasser schmeißt, während andere gegen die Strömung ankämpfen. Gerne werden dabei z. B. die Mitarbeitenden in der Produktion vergessen, weil diese „müssen ja nur ausführen“. Und wer in diesem Beitrag aufgepasst hat, hat verstanden, dass diese Denkweise selbst schon schädlich für Change ist. Change betrifft alle und muss deshalb alle mitnehmen. Es ist Aufgabe Ihrer Kreativität, Maßnahmen zu entwickeln, alle Mitarbeitenden in Ihr Boot zu holen. Und wenn Sie gerade an Townhall-Meetings und Flyeraktionen denken, denken Sie bitte nochmal nach. Kein echter Change ohne Kreativität. Kein Change ohne Bewegung. Und Bewegung braucht mehr als ein bisschen Kommunikation. Bewegung braucht Maßnahmen, die bei Denk- und Verhaltensmustern ansetzen. Ob da ein paar nette Worte und schöne Bilder ausreichen?
Fazit:
Wer sich selbst bewusst macht, wie schwer einem Change im eigenen Leben fällt, hat den ersten wichtigen Schritt bereits gemacht. Change kann nicht einfach von oben verordnet werden – je vielfältiger und verzweigter (Größe, Internationalisierungsgrad, Anzahl Geschäftsbereiche etc.) das Unternehmen ist, desto schwieriger. Wir alle sträuben uns mehr oder weniger gegen Wandel, auch wenn wir uns dies vielleicht nicht öffentlich eingestehen wollen. Die Gründe dafür sind tief in uns verankert. Unser Vorteil ist, dass wir dank der Erkenntnisse aus der Psychologie die Werkzeuge in den Händen halten, um daran etwas zu ändern.
Besonders erfolgreich sind diejenigen Unternehmen, die eine Kombination der vorgestellten Lösungsvorschläge einsetzen und einen klaren Plan mit einer Vielzahl von Maßnahmen verfolgen. Angepasst auf ihr Unternehmen, ihre Kultur, ihre Change-Intention und Mitarbeitenden.
Möchten Sie Ihr Unternehmen in eine Growth Mindset-Organisation verwandeln?
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