Neue Bedürfnisse in Bahnen lenken

Es gab eine Zeit, da dachte man bei Scooter an Techno-Musik und an lyrische Ergüsse wie „Respect to the man in the icecream van.“ Bewegt man sich heute auf den Straßen, kommen einem Touri-Gruppen auf E-Scootern entgegen, als stünde man mitten im Zieleinlauf der Tour de France.
Der ÖPNV (Öffentliche Personennahverkehr) steht wie alle Branchen vor einem großen Wandel – die Corona-Pandemie hat diesen Wandel nicht nur sichtbar gemacht, er hat ihn auch beschleunigt.

Wir zeigen anhand alltäglicher Phänomene auf, was sich im Konsumentenverhalten getan hat und wie der ÖPNV auf diese Veränderungen reagieren kann. Selbstredend sind die Entwicklungen im Konsumentenverhalten universell und damit übertragbar auf andere Bereiche des (Geschäfts-)Lebens.

Sharing-Economy-Effekt

Die E-Scooter sind die sichtbaren Zeichen für die ungeheure Bewegung im ÖPNV. Das Besitz aus ökonomischer und ökologischer Sicht nicht durchweg sinnvoll ist, macht sich im Bewusstsein der Konsument*innen immer stärker breit. Durch die oftmals spielerische Nutzung von Leih-Scootern gewöhnen sich die Konsument*innen immer mehr an diesen Gedanken und sind damit offener, dies auf andere Aspekte ihres Lebens zu übertragen (siehe auch: AirBnB, Car2Go).

Sanifair-Effekt

Sauberkeit und Hygiene fallen dann auf, wenn sie nicht gegeben sind. Wobei Sauberkeit einen Schlüsselindikator für Hygiene darstellt. Wie lässt sich dem gestiegenen Bedürfnis nach Sauberkeit und Hygiene in der Post-Coronazeit adäquat begegnen? Indem man Hygiene sichtbar macht! Dies ist ein zentraler Erfolgsfaktor der Autobahnraststätten von Sanifair: Beim Verlassen der Toiletten werden diese sichtbar maschinell gereinigt – Konsument*innen haben zudem die Chance, die Toiletten vor der Benutzung erneut reinigen zu lassen. Dadurch wird Hygiene sicht- und erlebbar, das Bedürfnis der Konsument*innen wird gestillt – oder anders ausgedrückt: eine Sorge wird ihnen genommen.

Prime-Effekt

Vergleichbar mit dem Sharing-Economy-Effekt ist der Prime-Effekt. Digitale Plattformen wie Amazon-Prime oder Lieferando wurden während der Pandemie noch stärker genutzt. Die wiederkehrende Nutzung geht einher mit einer Erwartungshaltung, die auf andere (auch nicht-digitale) Services übertragen wird: Es muss so schnell, transparent und konfliktfrei laufen wie beim Benchmark – alles andere ist nicht zufriedenstellend. Für Konsument*innen ist der ÖPNV eben auch nur ein Service.

Netflix-Effekt

Konsument*innen sind durch Unternehmen der sog. Subscription-Economy wie Netflix obendrein verstärkt daran gewöhnt, dass sie Abos einfach abschließen und kündigen können. So können sie Services entsprechend ihrer aktuellen Lebensbedürfnisse und ökonomischen Möglichkeiten anpassen. Wer braucht schon ein Netflix-Abo, wenn er am Strand liegt? Zudem schätzen Sie den Flatrate-Charakter der Abos: Einmal abgeschlossen, spielt es keine Rolle mehr, ob man mehr oder weniger Filme konsumieren möchte. Aber Vorsicht: Der Netflix-Effekt in der Subscription-Economy hat einen dunklen Doppelgänger. Mit einem zunehmenden Angebot an Video-on-Demand-Plattformen schließen die Konsumenten mehr Abos ab, trennen sich aber auch schnell wieder von Abos, die sie zu selten nutzen – spätestens, wenn die nächste Abbuchung auf dem Konto erscheint.

Spaziergang-Effekt

Am Abend trifft man sie, ob zu zweit oder alleine: Spaziergänger. Wer sollte noch spazieren gehen, wenn es doch E-Scooter gibt? Die Pandemie hat den Fokus der Konsument*innen auf ihr Bewegungsdefizit gelenkt. War schon zu normalen Bürozeiten die Bewegung im Alltag häufig verbesserungswürdig, so wurde dies im Homeoffice noch verstärkt. Apps und Smart-Devices wie die Apple Watch unterstützen die Konsument*innen, indem sie die Alltagsbewegung sichtbar machen und zu mehr Aktivität animieren.

Work-Home-Life-Balance-Effekt

Die Pandemie hat Konsument*innen auch etwas Positives beschert: Ein Argument für mehr Homeoffice-Tage. „Es hat ja funktioniert, warum kann das nicht immer so bleiben?“ So mag die Diskussion mit manchem Arbeitgeber gipfeln. Dies ist Ausdruck einer gestiegenen Erwartungshaltung gegenüber den Arbeitgebern, der mit dem tief verwurzelten Wunsch nach mehr Selbstbestimmung („Ich teile mir meine Zeit frei ein.“) und Quality-Time einhergeht.

Zwischenfazit: Der Kunde von gestern ist nicht mehr der Kunde von heute!

In den letzten Monaten haben sich die Konsument*innen verändert: Sie haben neue Lebenssituationen, Bedürfnisse und Erwartungen entwickelt. Wenn die Kund*innen sich verändert haben, wie können wir sie dann erreichen?

Wir müssen lernen, die Bedürfnisse, Emotionen, Motive und Lebenssituationen der Konsument*innen zu verstehen

Dabei geht es nicht nur darum, ehemalige Kund*innen zurückzugewinnen: Das veränderte Konsumentenverhalten liefert Chancen, darüber hinaus ganz neue Kundengruppen anzusprechen.

Mit einem angepassten Purpose das strategische Suchraster erweitern

Konsument*innen stellen sich immer häufiger die Sinnfrage und richten diese auch an Unternehmen. Doch was ist der Sinn (Purpose) des ÖPNV? Liegt dieser nur darin, Menschen zu transportieren? Was passiert, wenn wir den Blickwinkel erweitern? Könnte der Purpose des ÖPNV sein, Menschen dabei zu unterstützen, ihre persönlichen Ziele zu erreichen?
So könnte es ein Ziel der Konsument*innen sein, Freunde zu besuchen. Genauso gut könnte es ein übergeordnetes Ziel (Higher Purpose) sein, den eigenen CO2-Fußabdruck zu verringern, den eigenen Stadtteil zu verschönern oder sich im Alltag mehr zu bewegen. Der ÖPNV kann Konsument*innen bei all diesen Zielen unterstützen.

Wenn der ÖPNV seinen Purpose anpasst und damit sein strategisches Suchraster weiter fasst, lernt er nicht nur die Bedürfnisse und Motive seiner Kund*innen besser zu verstehen, er findet auch neue Geschäftsmodelle und Lösungen. Lösungen, die weiter reichen als neue Tarifmodelle (wie ein flexibles Homeoffice-Ticket für Gelegenheitspendler).

Wie wäre es mit Lastenrädern zum Verleih oder einem Einkaufswagen, den man bis vor die Haustür nehmen kann und dieser dann wieder abgeholt wird? Wie wäre es mit einer App, die mir sagt: „Du kannst jetzt auf den Bus warten. Wenn Du aber läufst bist Du insgesamt genauso schnell und hast noch 2.000 Schritte gemacht!“ Vielleicht sagt mir die App ebenfalls, wie viel CO2 ich gespart habe oder belohnt mich mit Punkten, die ich für die Verschönerung meines Stadtviertels oder andere soziale Projekte einsetzen kann, die mit meinen persönlichen Zielen und Werten im Einklang sind?

Dies sind nur einfache Ideen, die auf einem 5-Minuten-Brainstorming basieren und selbstredend getestet werden müssten. Was für neue Konzepte ließen sich jedoch entwickeln, wenn man hochwertige Daten nutzen und sie in einen strukturierten Ideation-Prozess mit Expert*innen und Kund*innen einfließen lassen würde?
Wenn der ÖPNV sich dem Purpose widmet, Konsument*innen zu ihren persönlichen Zielen zu bringen, so kann er ganz neue Zielgruppen erreichen und gleichzeitig die positive Entwicklung der Gesellschaft befördern.

Und ja, lassen wir diesen romantischen Gedanken kurz in den Hintergrund treten: Der ÖPNV würde Daten sammeln, wertvolle Daten. Er kann sie zu seinem Vorteil nutzen, oder eben zum Vorteil der Gesellschaft.

Gemeinsam die Geschichte des ÖPNV im Leben der Konsument*innen neu schreiben

Der ÖPNV befindet sich – wenn man die Verkehrsbetriebe der Städte und Landkreise anschaut – in einer beneidenswerten Situation: Da die Verkehrsbetriebe (in der Regel) nicht in Konkurrenz zueinander stehen, können sie Informationen und Wissen mit anderen Städten teilen. Wird dieser Austausch strukturiert, so lassen sich gemeinschaftlich vielfältige Insights generieren – und das sehr kostengünstig, weil die Rechnung durch alle geteilt wird. Durch kleine Experimente (z.B. ein A/B-Test von Botschaften oder neuen Angeboten innerhalb einer Stadt oder im Vergleich zweier ähnlicher Städte) und qualitative Marktforschung können verhaltensrelevante Erkenntnisse gewonnen werden, die bereits bestehende Fahrgast- und Wegeanalysen aufwerten.

So finden sich nicht nur Antworten auf das Was und das Wie, sondern ebenfalls auf das Warum. Dies ermöglicht es, die Kund*innen mit ihren Motiven, Lebenssituationen und Bedürfnissen besser zu begreifen. Aufbauend auf diesem Wissen können geeignete Lösungen und entsprechende Botschaften entwickelt werden. Wird diese Plattform-Idee noch weiter gedacht, können die einzelnen Akteure sogar gemeinsam werben und so einen viel höheren, konstanten Kommunikationsdruck erzielen, der notwendig ist, um das Verhalten der Konsument*innen in die gewünschten Bahnen zu lenken.

Sie möchten mehr zu den Effekten oder den vorgestellten Lösungsansätzen erfahren? Schreiben Sie uns einfach an und vereinbaren Sie einen unverbindlichen Gesprächstermin - über unser Kontaktformular oder unter .

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